Claudine’s Blogteam stellt
sich die Frage aller Fragen
eines Kunstblogs
Kunst-Event des Modelabels HeroinKids, 27. Juli 2018, München
Unbezahlte Werbung
Ein Beitrag von Boris Udina
Journalist & Claudine liebt Kunst-Gastautor
Was ist Kunst und was nicht?
Mit dieser Kernfrage beschäftigen wir uns bei Claudine liebt Kunst den ganzen Tag. „Was gefällt“, kann die oberflächlichste aller Antworten lauten. Doch gilt das auch für den Umkehrschluss? Wir haben das in unserer Redaktionssitzung erneut heftig diskutiert. Wie immer ohne Ergebnis. Aktueller Anlass darüber nachzudenken, ist der Besuch eines Events des auf Polarisierung gebürsteten Kunstprojekts und Modelabels HeroinKids. Wir waren erstaunt …
Um ganz ehrlich zu sein, haben wir uns gefragt, ob man tatsächlich ein Event besuchen darf/kann, das unter einem Namen wie HeroinKids läuft. Am Ende war es eine 51 zu 49 Prozent-Entscheidung, weil die Neugierde gesiegt hat, wer zur Kunsthölle dort hingeht. Entschlossen, einen möglichst neutralen Eindruck ohne die politisch korrekten „Mein Gott, wir sind ja so geschockt, aber dann ja doch irgendwie Chronisten im Namen der Freiheit und Kunst“-Phrasen zu vermitteln, sind wir gleich zu viert erschienen. So lief das Münchner Blogteam, bestehend aus glühenden Freiheitskämpfern mit Marilyn Manson-Affinität und jenen, die meinen, man dürfe HeroinKids kein Forum bieten, am Samstagabend in den BobBeaman Club ein. Es wäre ein Leichtes, jetzt das Gewissen zu erleichtern und den ersten Verriss in der Geschichte von Claudine liebt Kunst zu schreiben. Doch das überlassen wir lieber anderen und wird der Sache auch nicht gerecht.
Wie auch immer man zu grenzüberschreitenden Konzepten steht, das Marketing funktioniert im ersten Schritt. Und das können Chris Kaiserengel und Corinna Engel, die „eine Kunstausstellung und hedonistische Techno Party“ mit Videoprojektionen und großformatigen Kunstfotografien aus der HeroinKids-Serie angekündigt hatten, par excellence: „Eine riesige, extravagante Kunstausstellung“, stand in der Einladung. Klingt ja nicht soooo schlecht. Milde schmunzeln muss man jedoch schon ein wenig bei der SEO-affinen Positionierung von HeroinKids, das als jugendalltagsrealistisches Lebensgefühl propagiert wird: Man will „eine Generation zwischen Gruppensex, Gewalt, Party und Absturz“ spiegeln und verstehe sich als Ausschnitt eines wilden und freien Lebens, das an der Grenze zur Selbstzerstörung gelebt wird und keine Regeln oder festen Werte kennt. Also eine Art destruktiv-perspektivlose Gegenbewegung zur, oft als zu konservativ, dem work-live-balance hörigen, gar als langweilig beschimpften Generation Y – oder sind wir schon bei Z? Egal.
Der Verdacht liegt natürlich nahe, dass die Kunst als Schutzschild genutzt wird, um durch eine attraktiv-gefährliche Grauzone Grenzen überschreiten zu dürfen. Wir meinen: Kunst darf nicht alles und auch nicht alles ist Kunst – es ist aber immer die Frage, wer das beurteilt und die Regeln aufstellt. Ein schwieriges Thema, dem sich aber auch ein Kunstblog wie Claudine liebt Kunst immer neu stellen muss.
Eine trennscharfe Lösung ist nicht erkennbar. Bedienen wir uns zugegeben ausweichend Beispielen aus der Welt der Bücher: Ist Henry Millers Opus Pistorum als Kunstform verstandene Literatur oder doch Pornlit? Wahrscheinlich beides. Und ist ein Cora-Roman weniger Kunst, weil die Heftchen und Inhalte so kommerziell unterhaltend und wiederkehrend durchschaubar sind? Zudem wäre es naiv zu glauben, dass allein ein Labelname und Werbebilder einen Jugendliche zum Drogenmissbrauch verführten.
Was HeroinKids für Jugendliche interessant macht: Das Bedürfnis junger Generationen, sich von den sogenannten Erwachsenen abzusetzen, wird mit der Berufsjugendlichkeit älterer Menschen heute zunehmend schwieriger. Onkel und Tante gehen auf Metal-Konzerte, die Mutter lässt sich tattoowieren und ihr Kleiderschrank sieht aus wie ein Lookbook für Fashionistas etc. Dennoch muss es Regeln geben. Ob diese bei HeroinKids überschritten werden? Schwer eineindeutig zu beantworten. Die Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) hatte zumindest, allerdings ohne Erfolg versucht, die Präsenz zu verhindern. Das beschreiben die beiden Gründer nicht ohne zwischen den Zeilen lesbaren Stolz. Die kritische Grundhaltung ist jedoch angesichts dieser Texte durchaus angebracht: „Wir spiegeln mit HeroinKids Jungsein und aufwachsen in der heutigen Zeit wieder und dazu gehören eben auch Drogen, offen ausgelebter Sex, Gewalt, die überall und jederzeit verfügbare Pornografie oder die Jagd nach noch mehr Likes auf Instagram. Klar, ist das auch gefährlich, die Zeit in der wir leben ist gefährlich und das klammern wir nicht aus“, sagt Chris Kaiser. Das mag leider für einen Teil der Jugend gelten, für viele trotz der zum Teil kranken Entwicklungen in unserer Gesellschaft jedoch hoffentlich (noch) nicht. Muss man folglich die Jugend vor der „Kunst“ und der Botschaft von HeroinKids retten?
Nimmt man beispielhaft die Besucher des Münchner Events, ist „die“ Jugend langweilig und angepasst. Vielleicht 50 an der Zahl waren gekommen – aber eher, um dem wirklich coolen Sound zu lauschen und zu tanzen. Die Münchner sind bekanntlich eher nicht so begeisterungsfähig; die avisierte Zielgruppe saß in dieser warmen Nacht offensichtlich lieber in den Münchner Outdoor-Locations. In der eigenen Hood in Berlin dürfte das bei den HeroinKids-Parties wohl anders aussehen.
Und was ging im Beaman Club? Die schärfste von uns wahrgenommene Provokation aus den Reihen der Gäste war ein junger Mann neben uns, der seiner hochgeschlossen angezogenen hübschen Freundin immer wieder einmal zaghaft wie glücklich über die Brüste strich – und sie hat es sichtlich genossen. Ansonsten hat der geneigte Voyeur nicht sehr viel Transparentes gesehen, Ausschweifendes schon gar nicht. Dass so mancher Mann und manches Fräulein mangels Modelfigur mit blickdichtem Oberteil stylischer ausgesehen hätte, ist wiederum Geschmackssache und ja jedem selbst überlassen. Fest steht, dass weder der bekannte süßliche Duft in der Luft lag, offen Drogen konsumiert wurden oder sonstige anstößige Aktivitäten aufgefallen sind. Die eher lustige Situation vor dem Club, in der sich ein junger Mann mit hochgezogenem Shirt und Waschbärbauch spielerisch auspeitschen lies, um die Aufmerksamkeit der „Menge“ zu erhaschen, hat auch keinen der Anwesenden wirklich tangiert.
Ebenso steht fest, dass sich an diesem Abend für die Kunst kaum einer interessiert hat. Die großen Bilder mit wie so oft viel zu dünnen Mädchen, die in einer Art Retrospektive an die damals pressewirksamen Provokationen eines bekannten italienischen Modelabels und von Viva aus vergangenen Zeiten erinnern, kamen kaum zu Geltung. Auch die mit Tesafilm aufgeklebten Bilder auf den Moodboards wollten nicht so richtig ins Auge stechen.
Wie diese Bilder wohl in der Pinakothek der Moderne oder im Guggenheim wirken würden, haben wir uns gefragt?
Dass das Video aufgrund eines kaputten Beamers nicht zu sehen war, ist Künstlerpech. A propos künstlerisch. Dahingehend bietet HeroinKids nichts Neues, was nicht bedeutet, dass die Werbefotografien handwerklich schlecht sind. Die konzeptionelle Bildsprache zitiert Fashion-Selfies im Undone-Look mit Null-Bock-zu-nix-sehe-durchgenudelt-aus-und-will-provozieren-und-bin-ja-sowas-von-unangepasst-und-zugedröhnt-Attitütde, wie sie von Amateuren auf der Jagd nach Like und virtueller Geltung auch wahrscheinlich täglich Tausendfach hochgeladen werden. Ok, die Mädels tragen in der Regel eher keine Slips mit der Aufschrift „Will fuck for drugs“. Wer trägt das denn? Sind wir zu spießig, alt oder den HeroinKids-Gründern gar auf den Leim gegangen?
Wie auch immer, nach dem Besuch landete unser Team wieder bei der Gretchenfrage: Was ist „echte“ Kunst? Etwa auch David Lachapelles schrill-buntes Werk „Artists & Prostitutes“? Wir konnten uns bei der Grenzdefinition erneut nicht einigen – und das ist im Sinne der Vielfalt auf Claudine liebt Kunst wahrscheinlich auch gut so.
Bedienen wir uns zum Schluss doch einfach Wikipedia. Da steht, dass „das Wort Kunst im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit bezeichnet, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist. (…) Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses.“