
Ein Beitrag von Boris Udina
Claudine liebt Kunst-Gastautor
Terroristin
in der Kunst
Niki de Saint Phalle
Schirn Kunsthalle
Frankfurt, 3. Februar bis 21. Mai 2023
„Ich bin Künstlerin geworden, weil ich keine Wahl hatte, ich brauchte also keine Entscheidung zu treffen. Es war mein Schicksal. (…) Ich habe die Kunst als meine Erlösung und als eine Notwendigkeit angenommen.“
Ihre Nanas kennt jeder. „Ist ein wenig wie ein One-Hit-Wonder in der Musik. Man hat sich abgehört, bewundert dennoch den Erfolg – und dann … nichts“, dachte ich mir in meiner Naivität ohne Tiefgang. Jajaja, die Kunstkritiker liegen jetzt vor Lachen auf dem Boden. Natürlich hatte ich vorher ihre Geschichte gelesen, die wie so oft auch in diesem Fall wesentlich vielschichtiger und eben gar nicht so eindimensional fröhlich ist, wie es die rundlichen Figuren vermuten lassen.
Vor Ort, ja, liebe Online-Fetischisten, bitte merken, vor Ort haben alle anderen Werke ihren Zauber entfaltet. Und so bin ich als „Fan und Kunstliebhaber“, nicht als Kunstnutzer aus der Ausstellung gegangen (Grüße an Claudine ;). Geht hin, schaut es euch an und nehmt euch Zeit!
Unmöglich, das Gesamtwerk von Niki de Saint Phalle (1930 bis 2002) in einem Beitrag zu beschreiben. Ich versuche es gar nicht und liefere nur Stichproben. Aber vielleicht können die Ausstellung und die folgenden Zeilen die Neugierde jener wecken, die sich bislang noch nicht mit der amerikanisch-französischen Künstlerin beschäftigt haben. Und alle, die mehr wissen, werden daran erinnert, wie gut und modern sie war und gewissermaßen noch ist.
Provokateurin, Mitbegründerin des Happenings und Schöpferin der „Nanas“, eine der wichtigsten europäischen Pop-Art-Künstler:innen und vieles mehr – Niki de Saint Phalle war eine facettenreiche Visionärin – mit vielen, auch politischen Botschaften. Zu einer Zeit, in der selbstbestimmte Frauen einen noch härteren Kampf für ihre Rechte führen mussten als heute. In den 60er gesellschaftliche Konventionen in Frage zu stellen, erforderte Mut – sicher auch ein Stück Verzweiflung und innerer Zerbrechlichkeit.
Bei Niki de Staint Phalle mit ausgelöst durch den Missbrauch durch ihren Vater und einer Mutter, die bewusst wegschaute sowie einem frühen Psychiatrieaufenthalt. 1953 startete dann ihre künstlerische Karriere. Wenn Kunst ein kreatives Ventil für die Gefühlswelt ist, dann bei dieser bewundernswerten, smarten Frau. Sie war Autodidaktin, ließ sich künstlerisch treiben. Und sie wusste genau, wie sie auffällt. Ihre Schießbilder sind nur ein Beispiel für einen aufmerksamkeitsstarken Markenaufbau. Die Nanas in klein, groß und noch größer, der Tarotgarten als architektonisches Lebenswerk in der Toskana, Großplastiken, ihre Zeichnungen, Theaterstücke und Installationen prägen die feministischen Botschaften, die die Unabhängigkeit von Männern, eigentlich von allem, das Recht auf Freiheit und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper gelungen provokant propagieren.



„Ich war wütend auf die patriarchalische Gesellschaft, auf die Rollen, die man mir auferlegt. Ich wurde für den Heiratsmarkt erzogen (…). Ich sollte eine bestimmte Art von Person heiraten (…) und ich rebellierte gegen all das. Ich wollte ich selbst sein.“
Ihre Werke brauchen Aufmerksamkeit, es geht vor allem bei den dreidimensionalen Arbeiten um kleine Details. Keines der vielen von ihr gefundenen Gegenstände, die sie in die verschiedenen Serien einbindet, hat einen zufälligen Platz. Es ist stets eine ein- und aufdringliche Komposition. Weg- oder übersehen nicht möglich – zumal in dem nicht weniger eindringlichen pink-blau-lila Umfeld, das die Schirn für de Saint Phalle geschaffen hat.
Als sie in Happenings vor Publikum in einem immer gleichen weißen Anzug auf ihre Gemälde und Plastiken schießt, fällt sie nicht nur in der Kunstwelt auf. Wenn die unter einer weißen Gipsschicht verspachtelten Farbelemente von einer Kleinkaliberkugel getroffen werden, spritzt die Farbe heraus.
„Ich war bereit zu töten. Das Opfer, das ich wählte, waren meine eigenen Bilder. (…) Dann bat ich die Betrachter:innen, auf meine Bilder zu schießen. Ich wurde zur Zeugin meiner eigenen Mordaktion (…). Die Bilder bluteten …“ Und: Statt zur Terroristin zu werden, würde ich zur Terroristin in der Kunst.“
1965 dann der endgültige Durchbruch: In Paris stellte sie erstmals die Nanas aus, die aus Stoff, Garn und Pappmasché hergestellt sind. Ihre großen Plastiken waren im öffentlichen Raum in vielen Metropolen zu sehen – Polyester machte die Outdoor-Präsentation möglich. Der Erfolg hatte dennoch einen tragischen Moment: Sie atmete das giftige Material ein und wurde lungenkrank.
Für Niki de Saint Phalle waren die Nanas ein „Jubelfest der Frau“ – üppige, oft schwangere Figuren, die Lebensfreude und Kraft ausdrücken und die nicht von Männern und auch nicht vom Leben unterdrückt werden. „Eine neue Waffe im Einsatz gegen männliche Wunschvorstellungen, die den weiblichen Körper auf ein sexuelles Objekt reduzieren“, textet die Schirn.
„Ich selbst liebe meine Nanas. Ich finde sie fröhlich und lustig. Sir sind glücklich, weil sie frei sind; sie tun, was sie wollen. Sie brauchen keine Männer und sie denken auch nicht an sie.“
Von Nana Häusern, einer begehbaren Kathedrale bis zu vielen – wir sagen heute – Merchandising-Produkten …, die Künstlerin hatte es „geschafft“, und wusste, dass sie mit Merch das Geld einnahm, das ihre wahre Kunst, vor allem die Verwirklichung ihres großen Wunsches, den Tarotgarten, ermöglichte. Ihre ganze Geschichte, dass sie 2002 quasi am Geburtstag ihres zweiten, bereits verschiedenen Ehemanns starb, mit dem sie eine künstlerische Liebe verband (Achtung, Bandwurmsatz!) und den sie heiratete, obwohl sie sich bereits drei Jahre vorher von ihm getrennt hatte – all das liest du am besten im Ausstellungskatalog nach. Es gibt so viele Geschichten rund um de Saint Phalle.
Ist die Ausstellung zu empfehlen?
Eindeutig ja, auch wenn sie sich nur auf einen großen Raum beschränkt. Logisch, dass die großen Skulpturen der Künstlerin nicht ausgestellt sind. Lass dich nicht von dem sehr funktionalen Entrée (ent-)täuschen, sobald du die Treppe hochgehst, erwartet dich eine wunderbar-wichtige Welt in Pink. Der Farbverlauf im großen Saal ist spektakulär, die Raumaufteilung gelungen. Schade nur, dass der Film über die Künstlerin nur auf einem kleinen Screen zu sehen ist. Hier wäre ein separater Raum mit großer Leinwand dem großen Auftritt der körperlich zierlichen Frau eher gerecht geworden.
Insgesamt jedoch: Gratulation an die Schirn!
Herzlichst Boris