WHAT IS LOVE?
Von Amor bis Tinder
→ Inklusive einem Interview zur „Neuen sexuellen Revolution“
KUNSTHALLE BREMEN
7. Juli bis 21. Oktober 2018, Bremen
→ wegen großem Publikums-Interesse verlängert bis 27. Januar 2019!
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Zu Beginn eine Info zum Autor: Diesen Beitrag hat Boris geschrieben. Unser wohl umtriebigster Kunstliebhaber im Claudine Blogteam, von dem wir sicherlich noch einiges lesen werden; Journalist, Kunstfreund & einer der wissbegierigsten Menschen, die ich kenne.
Liebste Grüße,
Alles eine Frage der Liebe?
Eine Ausstellung, die sich mit der Frage beschäftigt, die wir alle für uns schon mal mehr, mal weniger schmerzhaft selbst gestellt haben? Es ist die erste museale Ausstellung, die das Phänomen Online-Dating aufgreift, schreibt die Kunsthalle Bremen *klick selbstbewusst. Claudine liebt Kunst findet, dass sich das doch ganz spannend anhört. Und wenn ein Museum die moderne wie klassische und gleichzeitig mutig bunte Ausstellung auch noch von Tinder sponsern lässt, wird es noch interessanter.
Anhand von etwa 40 Werken unterschiedlicher Kunstgattungen aus der Sammlung der Kunsthalle Bremen geht die Ausstellung „What is Love? Von Amor bis Tinder“ zeitlosen Fragen zu Liebe, Partnerschaft, Erotik, Schönheit und Narzissmus nach. Ergänzende Leihgaben befassen sich mit Online-Dating. Von zeitgenössischen Künstlern wird vor allem die App Tinder immer wieder aufgegriffen, die laut Kuratorin Jasmin Mickein, die auch die Idee zu diesem Konzept hatte, auf Nachfrage von uns inhaltlich nicht eingegriffen habe. Und selbst wenn, leidet die Glaubwürdigkeit der Ausstellung in diesem Fall nicht darunter. Der klassisch-poppige Ausstellungsmix umfasst Werke aus fünf Epochen. Sie zeigen unter anderem glückliche Paare, erotische Szenen und ideale Frauen.
Viele der ausgestellten Werke aus der Bremer Sammlung vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart waren seit Jahrzehnten nicht mehr zu sehen.
Darunter finden wir namhafte Künstler wie Anselm Feuerbach, Gaetano Gandolfi, Nan Goldin, Edvard Munch, Pablo Picasso … Die Werke, die sich mit Online-Dating befassen, stammen u.a. von internationalen Künstlern wie dem Australier Tully Arnot und der türkischen Fotografin Eylül Aslan.
Na dann, das ist ja visuell erfreulich.

Tom Wood / B&W Kiss, 1982
In der Ausstellung werden zunächst Vorbilder für heutige Partnerschaftsmodelle in der christlichen Bildtradition vorgestellt, dann reale Paare betrachtet und gefragt, wie die Erfindung der romantischen Liebe um 1800 diese verändert hat. Ebenfalls wird die Frage untersucht, wie weit eine glückliche Partnerschaft mit der eigenen Persönlichkeitsentwicklung und der Fähigkeit des Liebens zusammenhängt. Die Ausstellung „What is love“ erzählt zudem Geschichten von der Schönheit, die auch beim Online-Dating eine große Rolle spielt, und bezieht auch das Thema Sex mit ein.
Wir haben dazu und zum Thema Liebe und Erotik für Euch die Psychotherapeutin und Buchautorin Dr. Melzer interviewt. Sie hat in ihrem aktuellen Buch „Scharfstellung“ (Tropen Verlag) die neue sexuelle Revolution beschrieben. Ein ausführliches Interview mit der Kuratorin ist außerdem noch in der Abstimmung. Sobald die Freigabe erfolgt, stellen wir Euch die lesenswerten Antworten unter anderem rund um „Verlobungszwinger“ in den Blog.
Liebe Grüße, Euer Boris
© Kunsthalle Bremen / What is Love? / Fotos Melanka Helms
Lest hier unser Interview mit Dr. Heike Melzer *klick zu ihrem brandneuen und hochaktuellen Buch über „Die neue sexuelle Revolution“
Scharfstellung
Frau Dr. Melzer, wie definieren Sie denn Liebe?
Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Frage ich 100 Menschen nach ihrer Definition von Liebe oder beispielsweise Treue, bekomme ich Hundert verschiedene Antworten. Für mich als Psychotherapeutin ist Liebe ein intensives Gefühl der Zugehörigkeit und Wertschätzung. Sie geht mit einem warmen Gefühl im Herzen einher. Die Hormone Oxytocin und Vasopressin sorgen für Wohlbefinden und ermöglichen Bindung und Hingabe. Zu beachten ist bei allen: Es gibt ja verschiedene Formen der Liebe – zu einem Kind, einer Sache oder zu einem Partner, welche zu unterscheiden sind. Liebe ist im besten Fall und ihrer Reinheit bedingungslos, wird aber zunehmend zu einer Art Verhandlungssache.
Wie hat sich die Form der Liebe denn verändert?
Das romantische Liebesideals sieht die Dimensionen Liebe, Triebe und Fortpflanzung auf eine Person begrenzt. In der sexuellen Revolution vor 50 Jahren hat sich die Fortpflanzung durch sichere Verhütung und Straffreiheit der Abtreibung sicher von der Liebe abgekoppelt. Heute sorgen Samenbänke, Einzelspender, Leihmütter, Kinderwunschpraxen und Pränatal Mediziner dafür, dass sich heute keiner mehr sicher sein kann, wer die wirklichen biologischen Eltern tatsächlich sind. In der heutigen Revolution, die wesentlich schwerer wiegt, verabschieden sich die Triebe aus der Beziehung hinaus in die Weiten digitaler sexueller Superreize: Pornografie, High-Tech-Sex-Toys, virtuelle, käufliche und unverbindliche Partner. Langzeitpartner, auf denen die Last des Alltages ruht, können hier kaum mehr mithalten. Zudem hatten die Liebe und Triebe noch nie eine wirklich gute Beziehung zueinander, denn Liebe sucht Nähe und Sicherheit, Leidenschaft die Ferne und Abwechselung. Der Aufregungssex zu Beginn einer Beziehung wandelt sich über die Zeit hin in ein Ritual der Bindung, wenn es schlecht endet er als Pflichtprogramm. Dies bedeutet: Die Liebe kämpft heute ein Stück weit um ihre Existenz, weil sich die Triebe und die Fortpflanzung sukzessive von ihr verabschieden. Die einfache Idee was Liebe ist gibt es kaum noch, sie verwandelt sich in ein vielseitiges, buntes Chamäleon. Dabei ist die Messlatte für alle Bereiche hoch: die Liebe fürs Leben, der schärfste Sex, das Anrecht auf Glück, Kinder, Karriere, Gesundheit und Schönheit. Der Wunsch nach dem Partner, der alle Wünsche erfüllt wird bleiben, auch wenn wir heute kräftig rechts und links ergänzen, wenn mal etwas nicht so läuft wie gewünscht.
Romantik lohnt sich also noch.
Ja, Paare in einer romantischen Partnerschaft sind Studien zufolge zufriedener, gesünder und leben länger. Bindung, sei es in der Familie, Partnerschaft oder im Kreis von Freunden ist ein Grundbedürfnis, dass bestehen bleibt.
Wie sieht denn das Verhältnis von Kunst und Erotik aus? Picasso sagte ja gern, dass Kunst immer erotisch sei …
Kunst, Kultur und Literatur haben häufig sinnliche und erotische Komponenten mit an Bord. Essen und Kultur sind, und das klingt negativer als es gemeint ist, die Erotik von Langzeitpaaren. Wenn’s im Bett nicht mehr brennt, transformiert man Leidenschaft in andere Bereiche, die das Belohnungssystem aktivieren. Und auch Kunst wird heute immer digitaler und interaktiver und kann Menschen begeistern, die an alten Klassikern im Museum eher kein Interesse haben.
Würden Sie das Rad demnach frei nach Manfred Spitzers „Digitale Demenz“ nicht gerne zurückdrehen?
Nein, und das wäre auch illusorisch. Das Internet mit all seinen Entwicklungen ist weder gut noch böse, es kommt auf die Dosis drauf an und auf den Zeitpunkt des Konsums. Im Zeitalter von ADHS mit Impulskontrollstörungen und Aufmerksamkeitsdefiziten wird es immer mehr drauf ankommen, dass wir uns abgrenzen von Superreizen, damit wir für natürliche Reize noch empfänglich sind. Das gilt beim Essen ebenso wie in der Kunst. Die Verlierer bedienen sich an den dazugewonnenen Freiheiten, die Verlierer bleiben in repetitiven Reiz-Reaktionszyklen hängen. Verhaltenssüchte sind die Süchte der Zukunft und die Menschen tun gut dran sich mit der Materie auseinanderzusetzen.
Wagen Sie für uns einen Ausblick in Sachen Liebe, Sex und Pornografie. Wie lieben wir morgen?
Die Veränderung hat gerade erst begonnen und weitere technische Fortschritte werden uns mit immer stärkeren und auf unsere Bedürfnisse maßgeschneiderten Angeboten verführen. Während der letzten Wochen war ich in Tokio unterwegs, da vergraben sich die Menschen in ihre Smartphone. Aber die Liebe und die Triebe sind ja zwei unterschiedliche paar Schuhe. Liebe wird bestehen bleiben, der Begriff der Treue wird sich jedoch verändern, wird mehr und mehr zur Verhandlungssache. Wir können mit Sexrobotern, in VR-4D-Welten mit Avataren und ortsunabhängig mit virtuellen Partnern Sex haben. Dabei werden die Sex-Gourmets die neuen Reize als Genussmittel verwenden und ab und an davon probieren, während die Sexaholics den Ausschalter nicht mehr finden. Die Türen haben sich erst einen Spalt weit geöffnet und ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen. Die Kunst kann hier eine wunderbar ausgleichende, erdende und inspirierende Rolle einnehmen.
Herzlichen Dank, liebe Frau Melzer, für dieses Interview.