Thomas Sing: UNTIL I BREAK *klick erzählt auf 144 Seiten – mit über 120 Fotografien und in sieben kurzen Texten – auf den ersten Blick die Geschichte einer jungen Frau. Das ist allerdings keine dokumentarische Arbeit, wie es oft bei Fotobüchern der Fall ist. Das ist ein fiktionales Werk, wenn auch ein sehr persönliches: eine Art coming-of-age und eine Spurensuche zwischen den Polen von Spiritualität und Erotik, wobei ich für die letztere lieber den französischen Begriff des érotisme verwende, da dieser eher die ‚innere Erfahrung‘ trifft, um die es mir geht.
Thomas Sing: Das liegt ganz im Auge des Betrachters. Mir geht es erst einmal um nichts, außer vollkommen authentisch zu sein. In diesem Sinne ist mein Buch auch eine Suche nach mir selbst, nach den Spuren, die uns zu dem machen, was wir sind, und nach jener ‚offenen Wunde‘, die überhaupt erst eine (zwischenmenschliche) Kommunikation ermöglicht. Darin spielen Kindheit, intellektuelle Einflüsse, Alltag und Begehren eine Rolle. Momente und Erfahrungen,die mich und vermutlich uns alle prägen. Und damit wären wir bei zwei Schlüsselbegriffen und Schlüsselfragen meines Werkes überhaupt: Inskription und Intensität. Nicht zufällig wird jedes Exemplar des Buches zum Verkauf gesiegelt.
„Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich mich überhaupt nur dazu entschließen können, irgendetwas in meinem Leben zu machen – schlechthin: zu leben – wenn es in irgendeiner Form diesen süßen Reiz einer Erniedrigung mit sich brachte, in einer Vehemenz, die so übermächtig zu sein versprach wie Baudelaires Lawine.“ (S. 71) Es ist also auch eine Suche nach jener tiefen ‚inneren Erfahrung‘ (in den Worten Georges Batailles), die zugleich Werden und Selbstverlust ist. Deswegen auch die bewusste Entscheidung für eine fiktive Frauenfigur, die zugleich ein Selbstportrait und eine Selbstaufgabe ist. Jeder, der gerne liest, kennt diese Erfahrung, sich mit einer Figur zu identifizieren, allerdings erlebe ich das so radikal und existentiell, wie einen Schwindel, der mich auslöscht, so dass es mir schwerfällt, überhaupt wieder in ‚mein‘ Leben zurückzufinden. Deshalb sicher auch die künstlerische Auseinandersetzung damit (die letztlich eine existentielle Auseinandersetzung ist).
Ich verliere mich also in dieser Figur (nicht nur in dieser, das gilt für fast alle meiner Bilder), vernichte mich sozusagen in ihr, tauche aber dann – die pragmatische Notwendigkeit zu leben erfordert es – wieder aus ihr auf und nehme ein Stück von ihr mit. Und so weiter ad infinitum… Diese Dynamik grenzt sowohl an die erotische als auch an die mystische Erfahrung: La petite mort, der süße (aber immer nur temporäre) Selbstverlust im sexuellen, im sadomasochistischen oder im mystisch-religiösen Vollzug. Ich möchte natürlich nicht behaupten dass diese Bereiche deckungsgleich sind, sowohl die Methoden als auch die Ziele sind oft völlig verschieden, aber es gibt da Überschneidungen. Und genau dieser Bereich der Überschneidungen interessiert mich, und zwar auf allen Ebenen (persönlich, theoretisch, kulturhistorisch, künstlerisch). Genau an diesem Ort setzt meine Arbeit an.
Thomas Sing: Das ist recht simpel: ich mag nun mal die einfachen Dinge des Lebens am liebsten. Der einzige Pomp, den ich mag, ist Barockmusik, und die war sich immerhin der Eitelkeit jedes Pomps stets bewusst. Auch fotografisch und künstlerisch lässt sich mein Weg in den letzten Jahren am besten über stetige Reduktion beschreiben.Insofern sind die weißen Höschen konsequent. Außerdem mag ich diese Überlagerung von Unschuld und Beschmutzung, die sich darin ausdrückt, wenn auch nur als Möglichkeit: es kommt immer darauf an was man nicht sieht, übrigens im ganzen Buch. Das Foto ist immer nur ein kleiner Ausschnitt vom Rand eines größeren Bildes, dessen Zentrum nicht abgebildet ist, weil es sich der Abbildbarkeit entzieht. Das gilt womöglich für Kunst überhaupt: sie kann uns immer nur auf etwas Wesentliches hinweisen, ohne es abbilden zu können, vielleicht sogar ohne es abbilden zu dürfen.
Thomas Sing: Dieses Buch hat mein Leben ziemlich verändert. Auf all den Reisen (Paris, Wien, Amsterdam, Sizilien, gerade eben wieder Paris) bin ich zum einen vielen Menschen begegnet, die dieses Buch dann mit Begeisterung in die Welt getragen haben, zum anderen konnte ich eine Menge neuer Kontakte knüpfen, aus denen auch die ein oder andere Freundschaft entstanden ist. Sicher ist es spannend zu sehen wie die Leute auf dieses Buch reagieren. Manche haben das Buch wegen der Texte gekauft. Und mit anderen habe ich tiefsinnige Gespräche geführt. Wirklich ablehnende Reaktionen gab es keine, obwohl natürlich einige mit dem Thema des Buchs und seiner Umsetzung nichts anfangen können, aber das ist glaube ich mit jedem Werk so.
Am meisten freut mich immer wenn jemand darin blättert und ich sehe wie sehr diese Person sich damit identifiziert. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen sind das in der Regel Frauen, und das immer wieder zu erleben hat mich wirklich sehr beruhigt. Gerade das viele positive Feedback, das ich von Frauen – fast täglich auch über Instagram – bekomme, ist mir sehr wichtig. Dazu nur eine kleine Anekdote aus Amsterdam: eine junge Besucherin, um die 20, schlendert in Begleitung ihres etwa gleichaltrigen Freundes durch die Messe, bleibt am Stand meines Buchhändlers stehen und fängt an in UNTIL I BREAK *klick zu blättern. Sie sieht sich jede Seite an, liest Textstellen, hängt bestimmt eine Viertelstunde an dem Buch fest; ihr Partner langweilt sich zusehends. Am Ende spreche ich sie an, lasse mich dezent als der Autor erkennen und biete ihr an, Fragen zu beantworten. Sie sieht mich nur an, lächelt und sagt dass sie keine Fragen hat, dass ihr das alles vollkommen klar ist. So etwas ist eine Art Sternstunde, auch wenn sie nur einen Sekundenbruchteil des unausgesprochenen Einverständnisses dauert, das man mit einem Blick kommuniziert, in dem wir uns beide erkennen, auch wenn wir uns noch nie gesehen haben und nie wiedersehen werden. Auch sie hätte die Protagonistin dieses Buch sein können. In gewisser Hinsicht ist sie das auch, zusammen mit vielen anderen.
Thomas Sing: Es gibt eine Handvoll Ideen, aber die sind noch nicht konkret genug als dass ich dazu schon etwas sagen könnte. Sicher ist nur: UNTIL I BREAK *klick war das erste, aber nicht das letzte Buch. Und da nicht mehr viele Exemplare übrig sind, wird es wohl auch nicht so lange dauern, bis ich mit der Arbeit an einem neuen Buch beginne.
Thomas Sing: Die Texte, die ich für diese Arbeiten verwende, decken zwar enorme zeitliche und räumliche Spannen ab, sie stammen aus verschiedensten Teilen Europas und sind in verschiedenen Sprachen verfasst, lassen sich aber – zumindest annäherungsweise – alle unter dem Schlagwort ‚Frauenmystik‘ versammeln. Der früheste Text, den ich erst kürzlich entdeckt habe, ist die in altfranzösisch verfasste Séquence de sainte Eulalie, die um 880 entstanden ist und den ersten überlieferten poetischen Text darstellt, der in einer nicht-lateinischen Sprache verfasst wurde. Das geht dann bis ins 20. Jh. hinein, etwa mit Madeleine Lebouc, deren Visionen, Ekstasen und Erlebnisse von der Kirche nie anerkannt wurden, und mit Simone Weil, die eher als Philosophin und Sozialrevolutionärin bekannt geworden ist, die aber viele Briefe, Notizen usw. hinterlassen hat, aus denen sich ebenfalls eine Art Mystik außerhalb der etablierten Kirchen nachvollziehen lässt. Die meisten dieser Texte sind nicht sehr einfach zugänglich, zum einen wegen derer Verfügbarkeit, zum zweiten teilweise wegen der jahrhundertealten Sprache (z.B. mittelhochdeutsch, altfranzösisch oder altitalienisch), und zum dritten wegen des oft hermetisch klingenden Inhalts. Wunderschön zu lesen und zweisprachig bei Reclam erschienen ist etwa das sehr poetische Werk Mechthild von Magdeburgs Das fließende Licht der Gottheit, ich denke das kann man auch ohne einschlägige Vorkenntnisse lesen und einfach Freude daran haben.
Aber nun zu Deiner eigentlichen Frage: Ich kam während der Arbeit an UNTIL I BREAK *klick immer wieder in Berührung mit der Mystik, insofern sind diese Bilder auch eine Art Fortsetzung meines Buchs. Georges Bataille z.B., der bereits für UNTIL I BREAK eine wichtige Inspiration war, erwähnt diese Schriften immer wieder in seinem Werk, auch wenn man ganz klar sagen muss, dass man Bataille selbst nicht zur Mystik rechnen kann, dafür fehlt ihm der Bezug auf Gott. Aber auch bei ihm dreht sich alles um eine Innere Erfahrung, in der der Mensch sich aus jeder Zweckgebundenheit, aus jedem System, aus jeder Rationalität befreit. Ähnlich dem Selbstverlust des Individuums in der erotischen Ekstase bei Bataille, geht es in der Mystik (äußerst simplifizierend skizziert) um die Auslöschung des Ich im Eins-Werden mit Gott. Dazu bedienen sich die Mystiker oft extremer Praktiken der Selbstverletzung und -erniedrigung, die eher an einen sadomasochistischen Exzess denken lassen. In ihrem Delirium erreichen diese Texte oft eine Intensität, die man sonst nur in großer erotischer Literatur findet. Genau das sind die Stellen und Überschneidungen, die mich faszinieren und die ich für meine Arbeiten hernehme. In Kombination mit der Fotografie ergeben sich dann natürlich noch einmal neue Bedeutungsdimensionen.
Wir können diese Texte heute immer noch lesen, ich finde sie geradezu von überragender Modernität. Nicht umsonst wird beispielsweise Katharina von Siena, die von 1347-1380 gelebt hat, immer wieder als eine Art Proto-Feministin genannt: bereits im Kindesalter hat sie beschlossen, nicht zu heiraten, hat sich ihren Weg immer wieder gegen alle Widerstände der strengen mittelalterlichen partriarchal-klerikalen Gesellschaft freigekämpft und wurde letztlich zu einer wichtigen Figur in der politischen Szene ihrer Zeit. All diese Frauen haben sich für ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen über alle Konventionen ihrer jeweiligen Gesellschaft hinweggesetzt, und das bis zur äußerten Konsequenz. Darüber hinaus gehen diese Texte zeitlose Fragen an.
Thomas Sing: Fotografisch habe ich erst mal digital angefangen, mit der Zeit habe ich mich zunehmend mit analoger Technik beschäftigt und festgestellt, dass diese mir in meinem Streben nach Reduktion weitaus mehr entgegenkommt. Zum einen suche ich mir einen Film aus, dessen Ästhetik meinen Vorstellungen entspricht und verzichte auf aufwändige Retusche. Zum anderen zwingt die analoge Fotografie dazu, konzentrierter zu arbeiten. Film ist begrenzt und teuer, so wie Papier. Aber der für mich wichtigste Grund ist ein rein theoretischer, der den meisten Fotografen und Betrachtern in der Regel egal ist. Ich habe schon erwähnt dass ‚Inskription‘ und ‚Intensität‘ zwei für mich wichtige Begriffe sind, und das vollzieht sich auf dem Analogfilm sozusagen in Reinform: der Gegenstand bzw. die Realität, die sich über das Licht, das sie reflektiert, im Film ‚einschreibt‘ und so eine Art Gewissheit erzeugt dass das, was diese Spur in der fotografischen Emulsion hinterlassen hat, einmal tatsächlich existiert haben muss.
Thomas Sing: Die Formate sind – bedingt durch die winzige Schrift – klein. An einem 30x40cm-Abzug schreibe ich vier bis fünf Tage. Diese Arbeit ist wie eine tiefe Meditation: Da gibt es nur noch das Bild, den Text und die Feder. Das ist auch eine Art Selbstverlust. Man kann das nicht zwischendurch machen, und es dauert schon 30-60 Minuten, bis ich weit genug in diesen Prozess eingesunken bin. Ich schreibe frei und ohne Sehhilfen, und wenn man zu müde ist, wird man anfälliger für Fehler, die im Grunde ein Desaster darstellen. Deswegen mache ich immer wieder eine kleine Pause, um Hand und Augen zu entspannen. Ich bleibe aber immer längere Zeiten in derselben Sprache, um falsche Schreibweisen ähnlicher Wörter zu vermeiden.
Thomas Sing: Vielen Dank für Dein Interesse an meiner Arbeit. Im Moment fällt mir nichts mehr ein, aber für Fragen zu meiner Arbeit stehe ich immer gerne zur Verfügung.
Thomas Sing ist Künstler meines Künstlerportals moreform.art *klick. Dieser Artikel dient unter anderem der Bewerbung & Förderung der Bekanntheit des Künstlers Thomas Sing und meines Portals.
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